Flucht nach vorn
Als ihr Nachbar im schleswig-holsteinischen Dorf Sörup verbreitet, dass Kirsten Zielke HIV-positiv ist, muss sie um ihre berufliche Existenz bangen. Doch so leicht lässt sich die Friesin nicht unterkriegen und geht in die Offensive. Heute hat sie wieder festen Boden unter den Füßen.
Kirsten Zielke hat im Laufe ihres Lebens schon ziemlich viele Tiefs überstehen müssen. In ihren schlimmsten Zeiten hatte sie nicht einmal mehr einen festen Wohnsitz. Als sie vor zwölf Jahren wegen eines Drogendelikts in Haft kam, wurde dabei ihre HIV-Infektion diagnostiziert. Doch die heute 42-Jährige ist eine Steh-auf-Frau: Aufgeben gilt für sie nicht. So schaffte sie es nicht nur, von ihrer Sucht loszukommen, sondern auch wieder auf eigenen Beinen zu stehen.
Vor einigen Jahren zog sie dann mit ihrem Lebensgefährten in die schleswig-holsteinische Gemeinde Sörup. Gesundheitlich ging es ihr so gut wie schon lange nicht mehr. Ihre HIV-Medikamente unterdrückten die Virenvermehrung, in ihrem Blut waren keine Viren mehr nachweisbar. Mit einem Nagelstudio baute Kirsten Zielke sich eine kleine, aber vielversprechende berufliche Existenz auf.
Aufgeben gilt nicht
Doch mit einem Male blieb ihr Stammpublikum weg, und die Menschen in dem 4200-Seelen-Dorf begannen hinter ihrem Rücken zu tuscheln. Dass es etwas zu tratschen gab, dafür hatte ein Nachbar gesorgt: „Ihr geht zu einer Aidskranken, um euch die Nägel machen zu lassen? Habt ihr keine Angst, dass ihr euch was wegholt?“, sprach er Zielkes Kundinnen vor ihrem Haus an.
Alles, was sie sich über Jahre aufgebaut hatte, drohte über Nacht zusammenzubrechen. „Mir blieb eigentlich nichts anderes mehr, als von hier wegzuziehen“, erzählt Zielke. Doch einfach so kampflos das Feld zu räumen, kam für sie nicht in Frage. Unterstützt von der Aids-Hilfe in Kiel trat sie die Flucht nach vorn an.
Ihr war klar: Die Ausgrenzung, die sie erlebte, war letztlich nur ein Zeichen der Angst. Und Angst kann man nur mit Aufklärung begegnen. Über eine lokale Zeitung kündigte sie daher einen Infostand vor dem heimischen Supermarkt an, um die Söruper Mitbürger im direkten Gespräch über HIV und Aids zu informieren. Bald griffen auch andere Medien wie das „Flensburger Tageblatt“ und das NDR-Fernsehen den spektakulären Fall auf und berichteten über das Mobbing, aber auch über Kirsten Zielkes Zivilcourage.
Nicht einfach kampflos das Feld räumen
Ein Jahr ist seit dieser spektakulären Aktion vergangen. Kirsten Zielke hat unzählige positive Rückmeldungen und viel Anerkennung erhalten. Doch die Kundinnen blieben weiterhin aus, und auch einige Freundinnen und Bekannte hatten den Kontakt weitgehend abgebrochen. „Man entwickelt ein feines Gespür dafür, was Menschen über einen denken, auch wenn es keiner direkt und offen ausspricht“, schildert Zielke diese niederdrückende Atmosphäre.
Die Situation belastete sie mehr, als sich diese sonst so starke Frau zunächst eingestehen wollte. Sie kämpfte mit Depressionen und zog sich mehr und mehr in sich zurück. Auch körperlich ging es ihr schlechter. Sie musste eine Lungenentzündung durchstehen, in deren Folge die Zahl der Helferzellen in ihrem Blut nach Jahren guter Werte wieder in den Keller ging.
Dann hab ich mir selbst einen Tritt gegeben
Wieder denkt Kirsten Zielke darüber nach, aus Sörup wegzuziehen. Doch so einfach will sie sich nicht vertreiben lassen. Entscheidend war und ist für sie, einen Partner an ihrer Seite zu haben und zu wissen, dass auch dessen Familie zu ihr steht. „Und dann hab ich mir selbst einen Tritt in den Hintern gegeben“, erzählt sie mit einem Lachen. Sie geht wieder ihren Hobbys nach, malt und liest viel, trifft sich mit Freunden, gibt zum Selbstschutz einige andere soziale Kontakte auch bewusst auf. Sie hört mit dem Rauchen auf und wechselt zur elektronischen Zigarette – eine gute Entscheidung, wie sich herausstellt, denn in einem Internetforum dazu findet sie viele neue Freunde. Und sie findet wieder einen Job, im Telefonmarketing für ein Versicherungsunternehmen. Die Kolleginnen und Kollegen unterstützen sie bei ihrer Rückkehr ins Leben: „Die fanden es toll, dass ich mit Ellbogen meinen Weg gegangen bin“, erzählt sie.
Und ihr tratschender Nachbar? „Der ist inzwischen geschieden und weggezogen“, berichtet Kirsten Zielke. Genugtuung empfindet sie deshalb aber nicht. „Die hatte ich schon vorher“, sagt sie strahlend: Als sie ihm eines Abends zufällig auf der Straße begegnet, gibt sie ihm die Hand und schaut ihm tief in die Augen. „Ich wollte mich bei dir dafür bedanken, dass ich durch deine Dummheit so viele nette Leute kennengelernt habe“, sagt sie in aufrichtig freundlichem Ton – und lässt den völlig verdutzten Mann einfach stehen.
Axel Schock