DROGEN SPRITZEN KANN EINE SAUBERE SACHE SEIN.

Gil Bietmann hat lange in einem Drogenkonsumraum gearbeitet. Seinen Klienten hilft der gelernte Rettungsassistent zur Not auch beim Atmen. Der Drogenhelfer hat schon viele Menschenleben gerettet

Notfall!“, brüllt Gil Bietmann über den Flur von INDRO, der Drogenhilfe in Münster. Alle Mitarbeiter lassen ihre Arbeit liegen und rennen in den Konsumraum der Einrichtung: hell geflieste Wände, blanke Metalltische. Hier liegt Bernd* auf dem Boden, die Lippen blau angelaufen, die Augen geschlossen, keine Atmung. Gerade hat sich der etwa 60-Jährige einen Schuss Heroin gesetzt. Der Stoff war stärker als erwartet.

Bernds Glück: Er hat sich die Droge bei INDRO gespritzt, Gil Bietmann war im Raum und hat aufgepasst. „Piep – piep – piep“ macht nun das Pulsoximeter, ein dicker Plastik-Clip, den Bietmann an Bernds Zeigefinger geklemmt hat: Der gleichmäßige Ton zeigt an, dass Bernds Herz normal schlägt, aber die Wirkung der Droge lähmt die Atemmuskulatur. Bernd droht zu ersticken.

„ES IST EIN GUTES GEFÜHL, WENN EINER WIEDER ALLEINE STEHEN KANN“

Ein Kollege von Gil Bietmann hat den Notarzt verständigt, doch der hat gewarnt: Es dauert länger. Ein schwerer Verkehrsunfall, alle Rettungswagen sind im Einsatz. „Ich brauche drei Leute“, bestimmt Gil Bietmann, „wir wechseln uns ab mit der Beatmung.“

Bietmann ist routiniert, er hat lange als Rettungsassistent gearbeitet. Was jetzt kommt, kennt jeder aus dem Erste-Hilfe-Kurs: Bietmann drückt Bernd einen Beatmungsbeutel auf Nase und Mund und beatmet den reglos Daliegenden. „Bei einem Drogennotfall machen wir das, bis unsere Klienten wieder selber atmen können – oder bis die Rettungsdienst eintrefft“, erklärt Bietmann. Bei Bernd ist das Schwerstarbeit. 15 Minuten dauert es, bis die Sirene den Ambulanzwagen ankündigt.

Bernds Kollaps liegt schon zehn Jahre zurück, aber er ist „noch sehr gut im Kopf drin“, wie Gil Bietmann das ausdrückt. Inzwischen leitet der 39-Jährige Sozialpädagoge die Drogenhilfeeinrichtung Kick der Aidshilfe Dortmund, auch dort kommt es jedes Jahr zu etwa 20 schweren Drogennotfällen.

„Das Risiko ist kaum zu kalkulieren“, sagt Bietmann. „Die Leute sagen uns zwar, was sie gekauft haben, aber sehen tun wir nur: weißes Pulver oder graues Pulver.“ Deshalb ist es lebenswichtig, dass die Betroffenen nicht allein sind, wenn sie sich die riskanten Stoffe spritzen. „Wir verhindern oft Schlimmeres, weil immer ein Mitarbeiter im Drogenkonsumraum und nah an den Klienten ist“, so Bietmann. „40 bis 50 Prozent der Leute kriegen wir mit unseren Mitteln wieder hin, die anderen müssen ins Krankenhaus.“

In den meisten Situationen können die Teams in den Druckräumen viel früher eingreifen: Sie empfehlen ihren Klienten, den Stoff zu filtern. Raten zum Inhalieren statt zum Spritzen. Wer trotzdem drücken will, bekommt ein steriles Spritzen-Set zum Selbstkostenpreis. Niemand muss gebrauchte Nadeln benutzen – die können HIV und Hepatitis C übertragen.

STERILE SPRITZEN VERHINDERN DIE WEITERGABE VON HIV UND HEPATITIS C

„Eins ist ganz wichtig in der Drogenhilfe“, betont Gil Bietmann: „Man setzt sich kleine Ziele! Wenn die Leute nun mal Drogen nehmen, dann unterstützen wir sie dabei, den gesundheitlichen Schaden in Grenzen zu halten.“

Seit 2000 ist der Betrieb von Drogenkonsumräumen in Deutschland erlaubt, die Zahl der Drogentoten hat sich seitdem halbiert. Trotzdem gibt es in den meisten Bundesländern noch keine solchen lebensrettenden Einrichtungen (siehe Kasten).

Auch Bernd hat überlebt, obwohl er schon öfter auf der Kippe stand. Seit über 30 Jahren nimmt er illegale Drogen, lebt mit HIV und Hepatitis C. Nachdem er das Krankenhaus nach seinem Kollaps verlassen konnte, hat er Gil Bietmann oft bei INDRO besucht. „Das sind immer tolle Erlebnisse für mich, wenn die Leute nach einem Notfall wiederkommen“, sagt Bietmann. „Es ist ein gutes Gefühl, wenn einer nicht mehr vor dir liegt, sondern wieder alleine stehen kann.“

Gleichzeitig bot das Wiedersehen den Anlass für ein gutes Gespräch. „Bernd wollte wissen: Was war los? Wie ist das passiert? Wir konnten das zusammen reflektieren, weil wir das Erlebnis gemeinsam hatten. Deshalb machen Drogenkonsumräume Sinn: Man kann in Ruhe besprechen, was hilfreich ist – draußen auf der Straße funktioniert das nicht!“

Philip Eicker

*Name geändert

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