AIDS IST AUCH NICHT MEHR, WAS ES MAL WAR.

Christian starb fast, weil er nicht wahrhaben wollte, dass er Aids hatte. Heute steht er wieder voll im Leben – und möchte Heterosexuelle über HIV aufklären

Bald bin ich sowieso tot, dachte Christian im Jahr 2007. Er ahnte, dass er HIV-positiv war, und HIV war für ihn gleichbedeutend mit Aids, Aids hieß Tod. Aus dieser Gleichung gab es für ihn kein Entrinnen.

Innerlich gelähmt, wollte Christian ein Jahr später nicht einmal hören, wie ein HIV-Spezialist ihm Mut machte. „Sie können mit der Medikation ein normales Leben führen, gut 20 bis 30 Jahre“, sagte der Arzt. „Du Arsch willst mir ja nur die letzten Tage schönreden“, dachte Christian bei sich.

Heute sitzt der 42-Jährige auf dem Sofa in seiner Zweizimmerwohnung in Berlin-Reinickendorf, die er mit seiner Frau teilt: ein lebenslustiger großer Mann mit breitem Grinsen und festem Händedruck. Ein Typ, der auch mal zupacken kann, sein kahler Schädel lässt ihn wuchtig wirken. Er lächelt viel. Es ist unübersehbar, wie sehr er das Leben genießt.

„Wahnsinn“, sagt Christian und schüttelt sich. Was für eine Panik er sich damals gemacht hat! „Wenn ich die Uhr zurückdrehen könnte, ich würde den Test viel früher machen.

„HEUTE WÜRDE ICH DEN HIV-TEST VIEL FRÜHER MACHEN“

Christian hat den Test in letzter Sekunde gemacht, damals, als er so große Angst hatte. Lange hatte er geahnt, dass er HIV-positiv war, das aber verdrängt, so weit es ging und sogar noch darüber hinaus.

Angesteckt hat sich Christian vor gut zehn Jahren in Thailand bei einem One-Night-Stand. Danach war er verheiratet und seiner Frau treu. Er merkte nichts, bis er 2007 bei einem erneuten Thailand-Urlaub auf einmal keine Luft mehr bekam. Hohes Fieber kam dazu, es sah alles nach einer Lungenentzündung aus. In einer Privatklinik erhielt er Medikamente, und es ging ihm schnell besser. Nach drei Tagen kam ein Arzt mit dem Röntgenbild der Lunge in Christians Krankenzimmer und sagte: „Sie haben Aids.“

Christian fand das abwegig. „Den habe ich sofort rausgeworfen! Man kann doch Aids nicht auf einem Röntgenbild sehen!“ Dachte er. Heute weiß er: Der Arzt hatte Recht. Christian litt an einer Pneumocystis-Pneumonie (PCP), einer aidstypischen Lungenentzündung.

IM URLAUB GING CHRISTIAN DIE LUFT AUS

Sein Arzt in Berlin wusste es damals auch nicht besser und beruhigte ihn: Das mit Aids sei absurd, es handele sich einfach um eine Tropenkrankheit. Christian wollte ihm glauben, doch in ihm nagte der Zweifel. Hatte der thailändische Arzt Recht gehabt?

Und der Zweifel wuchs. Im Bett mit seiner Frau funktionierte nichts mehr. Er wollte sie nicht ängstigen und sagte nichts. Einen HIV-Test wollte er nicht machen, weil er Angst vor dem Ergebnis hatte. Die Furcht lähmte ihn. Ein Jahr lang erzählte er niemandem etwas, zog sich zurück, ordnete seinen Nachlass. Bis er wieder die gleichen Probleme bekam wie schon in Thailand: Schwäche, Kurzatmigkeit, Atemnot. „Ich kam kaum noch die Treppe hoch in meine Wohnung.“

Einen Thailand-Trip mit seiner Frau sagte er ab und ging wieder zum Arzt, diesmal zu einem Lungenexperten. Der konnte sich keinen Reim auf die Beschwerden machen, schickte ihn zum Röntgen und zur Computertomografie (CT), verwies ihn dann an einen Kollegen. Dieser setzte Christian aufs Fahrrad, um die Funktion der Lunge zu testen.

Während Christian in die Pedale trat, warf der Arzt einen Blick auf die CT-Bilder, stutzte – und griff zum Telefon. „Siehst du nicht, dass der Mann Aids hat?“, rief er in die Leitung seinem Kollegen zu. Christian, daneben auf dem Fahrrad japsend, erstarrte. Und schloss mit dem Leben ab.

„BESSER GLEICH STERBEN, HABE ICH GEDACHT“

Im Auto eines Freundes jagte er zum Flughafen, um seine Frau nach Thailand zu verabschieden. Sie machte sich Sorgen. „Es ist nichts Gravierendes“, sagte er. Sie wollte bei ihm bleiben. „Nee, flieg mal besser“, sagte er. Und fuhr direkt vom Flughafen ins Behring-Krankenhaus in Berlin-Zehlendorf, eine Spezialklinik für Lungenkrankheiten. Schon bei der Blutentnahme sagte er zur Ärztin: „Ich brauche einen Psychologen. Ich komme damit nicht klar.“ Die Diagnose bestätigte: Christian war HIV-positiv.

In der Klinik ließ er seine Lungenentzündung behandeln.

Und dachte an Selbstmord. Besser gleich sterben als vor sich hin vegetieren, dachte er, das Bild ausgemergelter Aidskranker aus den 80ern vor Augen. Genau diesem Vorurteil begegnet Christian heute selbst immer wieder. „Du kannst doch gar kein Aids haben, mit dem Bauch!“, bekommt er zu hören. Er muss lachen, als er davon erzählt.

„DU KANNST DOCH GAR KEIN AIDS HABEN – MIT DEM BAUCH!“

Überhaupt: Unwissenheit war oft das Hauptproblem. Hätte er dem Arzt glauben können, der ihm ein noch langes und erfülltes Leben verhieß – er hätte früher damit beginnen können. Dass es schließlich gelang, verdankt er der Selbsthilfebewegung von Menschen mit HIV, in der er heute selbst aktiv ist.

Andere HIV-Positive kennenzulernen veränderte alles. „Die sahen alle so normal aus. Ich dachte: Vielleicht habe ich doch eine Chance!“ Christian besuchte eine Gruppe der Beratungsstelle Pluspunkt in Berlin. „Die haben mich aufgefangen“, sagt er. Und weil er oft der einzige Heterosexuelle war, begann er, sich im Netzwerk PositHIV & Hetero zu engagieren, dem bundesweiten Zusammenschluss von heterosexuellen Frauen und Männern, die mit dem Virus leben.

Gerade unter Heterosexuellen seien Unkenntnis und Vorurteile über HIV und Aids noch weit verbreitet, sagt Christian. „Die schwule Community ist aufgeklärt, aber Heten nicht, da gilt das als schmutzig. Als Mann bist du schwul oder Junkie, als Frau Hure oder Schlampe.“

Mittlerweile steht Christian wieder voll im Leben. Jeden Morgen nimmt er zwei Tabletten, die HIV in seinem Körper in Schach halten, und er geht regelmäßig zum Arzt, um seine Blutwerte überprüfen zu lassen. „Die Pillen sind meine ständigen Begleiter“, sagt er mit einem bedauernden Grinsen. Sonst hat er keine Einschränkungen, Nebenwirkungen wie Übelkeit und Durchfall gab es nur im ersten halben Jahr.

So lebt Christian vor, dass man auch als HIV-Positiver ein normales Leben führen kann. Er hätte sich frühpensionieren lassen können, aber es war ihm wichtig, weiter zu arbeiten – aus finanziellen Gründen, aber auch, „weil ich Teil der Gesellschaft bleiben wollte“. So fährt er nun jeden Morgen in ein Callcenter, wo er für eine große Fluggesellschaft arbeitet.

Und seine Frau? Sie hat sich nicht infiziert. Sie hatte Angst, doch die beiden haben sich gemeinsam informiert, und mittlerweile kommt auch sie besser mit dem Thema zurecht. Im Bett läuft es allerdings immer noch nicht wieder. Christian hat zu große Angst, dass seine Frau infiziert werden könnte. Zwar machen seine Medikamente eine Übertragung des Virus so gut wie unmöglich, und sie könnten ja zusätzlich noch Kondome benutzen. Doch die Angst bleibt. „Da bin ich blockiert“, sagt Christian und schaut für einen Moment sehr nachdenklich.

„ICH NEHME MIR ZEIT, UM SCHÖNE MOMENTE ZU GENIEßEN“

Die Infektion hat sein Leben aber auch zum Positiven geändert: weil er den Tod vor Augen hatte. „Früher habe ich alles mitgenommen, und da ist viel an mir vorbeigerauscht. Da habe ich Alkohol getrunken, um mir die Birne vollzuknallen.“ Heute genießt er viel intensiver, geht in die Natur, an den nahen Schäfersee, sitzt dort auf einer Bank und schaltet das Handy aus. „Ich nehme mir Zeit für schöne Momente.“

So ganz kann er immer noch nicht glauben, dass noch viel Leben vor ihm liegt. Er weiß nicht genau, was das Virus in seinem Körper schon angerichtet hat und wie die Medikamente auf Dauer wirken. „Ich hab totalen Schiss vor dem Tod. Das Leben ist so schön!“

Malte Göbel

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