Gorm Grimm

1941-2008

Es ist an der Zeit, dem Ansehen dieses großen, wunderbaren Menschen und Arztes Gorm Grimm gerecht zu werden. Die deutsche Suchtmedizin und eine unüberschaubare Zahl Suchtkranker verdanken ihm sehr viel. Sein Wegbegleiter und Schüler Albrecht Ulmer erinnert an ihn.

Gorm Grimm gehört fachlich und menschlich zu den wichtigsten Menschen, denen ich begegnen durfte. Seine Größe ist bis heute, vier Jahre nach seinem Tod, weithin verkannt geblieben.

Sein Beitrag zur deutschen Suchtmedizin und damit zur Behandlung von Suchtkranken ist einmalig. Mit seiner einfachen Offenheit und Experimentierfreude hat er schon in den 70er Jahren, weit vor allen anderen, eine ganz neue Art, Suchtkranke zu behandeln, aufgetan. Diese neue Art ist uns heute, weiterentwickelt, selbstverständlicher Standard. Aber in den ersten Jahrzehnten wurde man damit zum Außenseiter oder Spinner erklärt, mit entwürdigenden Anfeindungen konfrontiert oder – mehr noch – totgeschwiegen. All das hat Gorm bitter erleben müssen. Am Ende hat er sogar seine ärztliche Approbation zurückgeben müssen, er galt als unfähig oder unwürdig, weiter den Beruf des Arztes auszuüben.

Wie be- und verurteilen wir Menschen?

Das ist so daneben wie, dass G. Verdi, einem der größten Komponisten der Musikgeschichte, das Musikstudium verweigert wurde, weil er die Aufnahmeprüfung nicht bestanden hatte. So wie Verdi dann doch geachtet und geehrt wurde, sollte es eigentlich auch Gorm Grimm ergehen, wenigstens nach seinem Tod.

Wie be- und verurteilen wir Menschen? Eine Geschichte dazu: Auf dem Weg zur Trauerfeier nach seinem Tod begegnete ich einer ehemaligen Patientin von ihm, die heute erfolgreich als Psychotherapeutin arbeitet. Die erzählte: „In den 70er Jahren war man als Drogenabhängige auf Holland angewiesen. Dort gab es Ärzte, bei denen man Methadon oder etwas Vergleichbares verschrieben bekommen konnte. Aber die meisten dieser Ärzte ließen uns Patienten spüren, dass wir nicht willkommen waren. Der Umgang war oft entwürdigend. Immer wieder hieß es plötzlich: Es gibt nichts mehr, sucht euch einen anderen. Dann hörte ich, dass es einen Dr. Grimm in Kiel gäbe, bei dem man sich Codeintabletten als Substitution verschreiben lassen könne. Die Art, wie er uns aufnahm und behandelte, war so unfassbar anders: ganz normal als Mensch und als Patient geachtet. Genau das war für uns längst unvorstellbar geworden. Dr. Grimm strahlte von Anfang an Güte aus und eine verlässliche Struktur. Dadurch konnte ich wieder an mich glauben und hatte eine Zukunft.“

Ist das nicht urärztliche Heil-Kunst im besten Sinne? Wie viele Menschen, die von ihm behandelt wurden, haben ihm diese Wiedergewinnung des Glaubens an sich selbst zu verdanken! Und wie viele, die später bei Schülern und Schülers-Schülern von ihm behandelt wurden!

Er wurde zum einsamen Rufer in der Wüste

Gorm Grimm wurde zum Urvater der Substitution in Deutschland. Zu seinen historischen Leistungen gehört, als eigentlich nur ganz normaler Allgemeinarzt darauf aufmerksam geworden zu sein, dass die Behandlung von Suchtkranken unzureichend war und dass es Möglichkeiten einer extremen Verbesserung gab. So wurde er zum Pionier, lange zum einsamen Rufer in der Wüste. Immer wieder wurde ihm vorgeworfen, im Glauben an seine Patienten naiv und viel zu liberal zu sein. Aber ich weiß, das war er nicht. Eher zu gutgläubig, was die Überzeugbarkeit seiner Kollegen und der Gesellschaft betraf.

Immer wieder wies er darauf hin, dass ihn ursprünglich das Hören auf seine Patienten auf die neue Spur gebracht hätte. Dieser Grundhaltung des intensiven Zuhörens ist er immer treu geblieben und hat ein Leben lang daraus gelernt. Weil er den Dingen systematisch nachging, wurde er zum Pionier. Er wurde der deutsche Entdecker des Dihydrocodeins. Über die damit zu erzielenden Behandlungserfolge war er so begeistert, dass er das Buch „Die Lösung des Drogenproblems“ verfasst hat. Dieses Buch war ein Meilenstein in der deutschen Fachliteratur zum Thema Drogen. Sein Titel „Die Lösung..“ schien das ganze Buch zu entwerten. Typisch Grimmsche Übertreibung, allzu naiv, meinten die Kritiker und sogar manche Freunde. Dabei wurden er und all seine grandiosen Visionen hoffnungslos verkannt – sein lebensbegleitendes Schicksal.

Für ihn waren Suchtkranke nicht Menschen dritter Klasse

„Die Lösung“ hätte es vielleicht wirklich gegeben, wenn Fachwelt und Gesellschaft ihm gefolgt wären. Sein Umgang mit suchtkranken Patienten war auch revolutionär anders als was man heute unter dem Gros an Substitutionsbehandlungen subsummiert. Für ihn waren Suchtkranke nicht Menschen 2. oder 3. Klasse, die man unter ein entwürdigendes Paket von Sicherheitsrichtlinien stellen muss. Die ganze Entwicklung der Knebelung durch betäubungsmittelrechtliche Vorschriften war ihm zutiefst zuwider, und das nicht etwa, wie viele meinen, weil er hoffnungslos naiv, unstrukturiert und unangemessen liberal gewesen wäre, sondern weil der neue fachliche Ansatz bei ihm auch ein ganz neuer menschlicher Ansatz war. Sicherheit und Qualität basierten für ihn viel stärker als heute auf Vertrauen, keinem blinden Vertrauen, sondern einem durch qualifizierte Nähe und angstlose Offenheit engagiert aufgebauten, optimalen Patientenverhältnis, wie wir es uns heute kaum noch vorstellen können.

Er sah sehr schnell, dass ein systematischer Ansatz für ganz Deutschland nötig war. Unter anderem dafür hat er sein Buch geschrieben. 1991 war er einer der zehn, die sich bei Herbert Elias in Frankfurt trafen, um die heutige Deutsche Gesellschaft für Suchtmedizin zu gründen. Er begleitete unsere Arbeit mit Ideen, die heute noch auf ihre systematische Erschließung warten. So hat er früh erkannt, dass die ganz neue Art, Suchtkranke zu behandeln, nicht nur auf Opiatabhängige zu beschränken ist. In einem weiteren Buch, „Drogen gegen Drogen“, hat er schon Anfang der 90er Jahre aufgezeigt, dass ähnliche Ansätze für viele und nicht nur stoffliche Suchtkrankheiten möglich sind. Ansätze, die immer auf einem menschlich-fachlich qualifizierten Zuhören und Eingehen auf die Nöte der Patienten beruhen. So hat er schon bald entdeckt, was heute noch weitgehend Vision ist: dass man auch Alkoholabhängigen hervorragend mit Dihydrocodein helfen kann.

In seinem Rückzugszimmer spielte er Bach oder Mozart am Klavier

Spätere Fehlentwicklungen erfüllten ihn mit großer Sorge. Immer wieder diskutierte er mit uns die kritische Einführung des Dihydrocodein-Saftes. Mit den von ihm verordneten Tabletten erlebte er die „Codeintoten“ nicht, die in den 90er Jahren zunehmend Schlagzeilen machten und die 1998 zum weitgehenden Verbot des Dihydrocodeins führten. Er hatte mit menschenverachtender Schlamperei oder Gewinnsucht, wie sie einer Reihe von besagten Todesfällen zugrunde lagen, nicht das Geringste gemein. Struktur und Qualität hatte er immer im Auge, aber eben auf ganz anderer Basis als einer betäubungsmittelrechtlichen. Diese Basis beruhte auf tiefster, sehr feiner Menschlichkeit. Immer wieder zog er sich z. B. in sein Rückzugszimmer zurück, um dort einen Bach oder Mozart am Klavier zu spielen.

Als Schüler und Freund weiß ich: Er war ein wunderbarer Mensch. Diese Mischung aus intensiver, empathischer Patientenzuwendung, systematischem Kampf für Verbesserungen in der Medizin und immer wieder auch dem Rückzug, um am Klavier und in der Philosophie über alles nachzudenken. Nur nebenbei, aber nicht unwichtig: Privat bekannte er sich dazu, schwul zu sein.

Persönlich hat mich auch die Liebe zur Musik mit ihm verbunden. Auch bei mir steht ein Klavier in der Praxis, und ich denke oft an ihn, wenn es mir hilft, die Spannungen der ausgesetzten Arbeit zu verarbeiten. Als ich nach seinem Tod 2008 zur Trauerfeier in Laboe fuhr, habe ich gerade eine bisher noch nie aufgeführte Chorfuge geschrieben. Sie wurde am nächsten Tag fertig. Ich habe sie ihm gewidmet. Das Fugenthema steht über dem Text: „Lebet Vertrauen, dann erblüht das Leben.“

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