SAFER SEX GEHT AUCH ANDERS.

Jeder weiß: Kondome schützen. Dass HIV-Medikamente die Übertragung des Virus genauso zuverlässig verhindern, können die meisten Menschen zunächst kaum glauben. Den lebendigen Beweis liefert eine Schweizer Familie: Michèles Medikamente schützen Mic. Das wissen auch die Kinder

Michèle und Mic streiten gerne ein wenig. Wie das so ist bei Paaren, die schon lange glücklich zusammen sind: Ein paar Fragen sorgen dann doch immer wieder für Diskussionen. Wann genau sie sich entschieden haben, auf Kondome zu verzichten, darüber sind sie sich zum Beispiel nicht ganz einig. „Das waren Bettgespräche“, erinnert sich Michèle. „Wir haben es mal weggelassen, dann wieder nicht ...“

„Es war ein Bettgespräch“, betont Mic. Danach, so erinnert er sich, war die Sache klar: Kondome sind nicht mehr notwendig. Für ihn, den HIV-negativen Mann einer HIV-positiven Frau, gab es keinen Zweifel mehr: Er vertraut der Schutzwirkung von Michèles Medikamenten (siehe Kasten S. 12). Angst habe er dabei nie gehabt, sagt er, „höchstens so eine ganz kleine“.

„ES FÜHLT SICH EINFACH GUT UND RICHTIG AN“

Auch Michèle ist sich mittlerweile sicher: „Es fühlt sich einfach gut und richtig an.“ Seit zehn Jahren ist die 48-Jährige mit dem 54-jährigen Mic zusammen, mit den Töchtern Sofia und Mona leben sie in einem kleinen Ort bei Basel. Doch bis zum Ehe- und Familienglück war es ein langer Weg.

Michèle vor knapp zwanzig Jahren: Sie wünscht sich nichts sehnlicher als ein Kind. Ihr damaliger Freund ist HIV-positiv, aber Vater zweier HIV-negativer Kinder – warum soll das nicht noch mal klappen? Die beiden lassen es drauf ankommen.

Es geht alles schief: Michèle verliert das Kind, der HIV-Test ein paar Wochen später ist positiv. Die Beziehung geht auseinander. Wirksame Therapien gegen HIV gibt es noch nicht. „Ich habe gedacht, ich werde mit dem brennenden Wunsch nach Kindern alt, aber frag nicht wie alt“, erinnert sich Michèle.

Zehn Jahre später: Michèle trifft einen Ex-Freund wieder, ihre Jugendliebe. Sie weiß, dass ihre HIV-Therapie das Übertragungsrisiko massiv senkt, doch es ist ihr viel zu heikel, sich darauf zu verlassen. Er ist es, der auf das Kondom verzichten will. Sie widerspricht, lässt sich aber schließlich doch hinreißen – und wird schwanger. Der Ex verschwindet wieder, doch Sofia kommt zur Welt. Eine HIV-Übertragung auf das Kind verhindern Medikamente, zur Sicherheit bekommt Sofia nach der Geburt den Wirkstoff AZT verabreicht.

Der Traum vom Kind ist erfüllt, die Sehnsucht nach einer erfüllten Beziehung bleibt. Bis Michèle über einen sündhaft teuren SMS-Chat Mic kennenlernt. Als sie sich nach einer Woche zum ersten Mal treffen, hat sie Angst, ihm zu sagen, dass sie HIV-positiv ist. Doch Mic hat die umtriebige Aktivistin längt gegoogelt und ist im Bilde.

Die Überraschung: Für Mic ist Michèles Infektion kein Problem. „Ich habe ihr gesagt: Erklär mir, worauf wir aufpassen müssen. Ich habe ihr vertraut, aber zugleich habe ich mich für mich selbst verantwortlich gefühlt und mich schlau gemacht.

“Sex ohne Kondom kommt für die beiden damals nicht in Frage. „Ich hatte schon nach der Sache mit meinem Ex drei Monate Angst gehabt, dass ich ihn infiziert haben könnte“, sagt Michèle, „das wollte ich nicht noch einmal erleben.“

Den gemeinsamen Wunsch nach einem weiteren Kind legen sie aus finanziellen Gründen auf Eis. Kurz darauf wird Michèle schwanger. Trotz Safer Sex. Völlige Sicherheit gibt es eben nicht im Leben.„Wir haben keine Ahnung, wie wir Mona gemacht haben“, sagt Michèle lachend, „es muss irgendwie beim Petting passiert sein.“

Ein Gespräch mit ihrer Ärztin verändert alles. „Wenn Sie möchten, können Sie das Kind ohne Kaiserschnitt zur Welt bringen“, sagt die Ärtztin. In diesem Moment fällt der Groschen. „Ich habe gedacht: Bei einer Geburt gibt es Druck, Reibung, unheimlich viel Blut. Wenn nicht mal da was passieren kann, dann bin ich wirklich nicht mehr infektiös.

NATÜRLICHE GEBURT TROTZ HIV – DA WAR PLÖTZLICH ALLES KLAR

Nach Monas Geburt entscheiden sich Michèle und Mic, auf Kondome zu verzichten. Es ist beiden ein tiefes Bedürfnis, das sie sich vorher versagt hatten: Sexualität ohne etwas „Technisches“ zwischen ihnen. „Es ist einfach schön, einander überall ganz zu spüren, auf jede Abgrenzung zu verzichten“, sagt Michèle. „Und es war für mich eine riesige Erleichterung, mich endlich nicht mehr als gefährlich zu empfinden.“

Es dauert noch ein bisschen, bis die Angst ganz von ihr abfällt, bis das Wissen von der Schutzwirkung der Therapie auch zur gefühlten Wahrheit wird. Vor allem eine Frage treibt sie um: „Ich wollte wissen, ob Mic mich noch lieben würde, wenn ich ihn doch infizieren würde.“

Mic protestiert sofort: „Es wäre dann nicht so, dass du mich infiziert hättest! Ich bin im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte und trage die Verantwortung selbst.“

Wie kann Mic so ruhig bleiben angesichts eines Virus, das bei anderen Menschen Panik auslöst? „Ich kann rechnen“, sagt er lakonisch mit Blick auf die Studien zum Thema. „Das Risiko ist so gering, dass man mathematisch sagen kann, es beträgt Null. Wenn es passieren würde, dann wäre das ein extrem unwahrscheinlicher Unfall. Ich fahre ja auch Auto, obwohl mir dabei etwas zustoßen kann – übrigens mit sehr viel höherer Wahrscheinlichkeit.“

Dann breitet sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus: „Außerdem habe ich schon genug Angst vor Lungenkrebs undHerzinfarkten. Da brauche ich diese Angst nicht auch noch.“ Ein Hypochonder, der keine Angst vor HIV hat? „Ich kann rechnen“, wiederholt er mit einem Zwinkern. Mittlerweile lässt er sich nicht mal mehr auf HIV testen. Sex ohne Kondom gehört für die beiden heute zum Alltag wie für andere Paare auch.

SEX OHNE KONDOM GEHÖRT FÜR DIE BEIDEN HEUTE ZUM ALLTAG

Nur wenige Paare reden so offen wie Michèle und Mic darüber, dass sie trotz HIV auf Kondome verzichten. Als Präsidentin der Selbsthilfeorganisation LHIVE hat Michèle in der Eidgenössischen Kommission für Aids-Fragen (EKAF) darauf gedrängt, sich öffentlich zu äußern. Das Gremium veröffentlichte im Jahr 2008 nach langem Ringen ein Papier, das besagte: HIV-Positive unter erfolgreicher Therapie sind sexuell nicht infektiös. Über dieses Statement wird seitdem weltweit diskutiert. So saßen Michèle und Mic irgendwann mit ihrer Familiengeschichte bei stern TV und standen Günter Jauch Rede und Antwort. Die Kinder spielten seelenruhig in einem Nebenraum. Sie wissen –wie Mona es formuliert –, dass „die Mama ein Virus hat, aber weil sie Medikamente nimmt, kann es dem Papa nichts tun“.

ES BRAUCHT ZEIT, BIS AUS WISSEN GEFÜHLTE WAHRHEIT WIRD

Erwachsene haben es manchmal schwerer, daran zu glauben. Vor einigen Jahren hat ein französischer Aids-Aktivist Michèle sogar als Mörderin beschimpft, obwohl Mic offenkundig quietschlebendig ist.

Vor allem HIV-Positiven fällt es nach Michèles Erfahrung schwer, auf die Schutzwirkung der Therapien zu vertrauen. Viele haben gesagt: Wir dürfen das nicht. Deswegen reden wir öffentlich darüber: Diesen Prozess kann nicht jeder für sich durchlaufen, das Thema gehört nicht ins stille Kämmerlein. Es ist eine so große Entlastung zu wissen, dass nichts passieren kann!“

Michèle kennt sie selbst, diese Momente der Unsicherheit. „Ich habe tief verinnerlicht, dass ich als Positive gefährlich bin und mehr Verantwortung trage.“

„So ein Unsinn“, widerspricht Mic, „wir haben das gemeinsam entschieden.“

Sie streiten eben gern ein bisschen.

Holger Wicht

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